29. Juni 2020 /Von Nina George, Präsidentin des European Writers‘ Council.  Haben Bücher noch eine Zukunft?


Die Folgen der Covid-19 Krise und ihrer Maßnahmen werden für den gesamten Buchsektor Deutschlands und Europas sowie für Autoren und Übersetzerinnen als sehr schwerwiegend eingeschätzt, so die Ergebnisse der EWC Umfrage in 24 Ländern und unter 33 Schriftsteller- und Übersetzer-Verbänden. Was kann Europa, was können die Länder – und was kann jede Gesellschaft tun, um auch für die nachfolgenden Generationen die Vielfalt, das Wissen und den Wert der Bücher zu bewahren?

Die Lage ist ernst – für die Buchbranche, und gleichwohl für die gesamte Welt und ihre bisherigen Strukturen, Gewohnheiten und, ja: auch Wichtigkeiten. Es gibt nicht mehr den „place to be“, Orte, an denen man sein muss, um sehen und gesehen zu werden. Es gibt keine Veranstaltungen mehr, auf denen „man sich blicken lassen muss“, um Beziehungen zu knüpfen, die einen „nach oben bringen“. Auch dieses „nach oben“ steht nun auf dem Prüfstand: Wo ist denn nun dieses „oben“? Dort, wo der Raubtier-Kapitalismus seine Schäden hinterlassen hat? Dort, wo die billige Tourismusbranche auf Kosten von Natur und Menschen handelt? Dort, wo zuvor eine Politik des Wachstums und Disruption proklamiert wurde, die sich nun auf neue Zukunftswerte konzentrieren muss: Auf Erhaltung, Nachhaltigkeit, auf Demokratie, Inklusion, Klimaschutz, und auf Investitionen in eine Zukunft, in der sich junge und nachfolgende Generationen schwerer, zurecht finden werden.

Das Buch lebt von der Begegnung mit Menschen
Schaut man als Unbedarfter in einen Buchladen, erscheint die Krise dort so fern: Bücher – gibt es die nicht immer? Und haben Schriftsteller nicht den sichersten Beruf der derzeitigen Welt: daheim bleiben und sich im Manuskript vertiefen?
Hier muss mit einer romantischen Idee aufgeräumt werden: Nur wenige hauptberufliche Autoren und Autorinnen bestreiten ihr Einkommen vom Verkauf ihrer Werke. Hierunter fallen etwa 5-7 % Bestseller- und rund 10 % Midlisterautorinnen. Die meisten unserer Kolleginnen und Kollegen aus dem Publikumsmarkt verfügen über mehrdimensionale Einkommensfelder wie Lektorat, Lehr- und Kurs-Veranstaltungen, Moderation von Panels und Veranstaltungen, Vorträge und Lesungen, die Leitung eines Buchclubs oder Schreibzirkels. Weitere Einnahmequellen sind Stipendien, Preise und Einladungen zu transnationalen Festivals. Viele Schriftsteller und Übersetzerinnen arbeiten als Literatur-Scout, Gutachterinnen, schreiben Kritiken oder organisieren Projekte.

Es ist den WortarbeiterInnen in Europa selten möglich, Rücklagen für mehr als drei oder gar sechs Monate zu bilden, was aus geringen und sinkenden Vergütungen und Tantiemen, und fortgesetzt schwacher Verhandlungsposition im Vertragsbereich resultiert. Alle Honorare werden zur Deckung der Lebenshaltung genutzt. Betrieblich abzuschreibende Ausgaben sind gering; die wenigsten können ein Arbeitszimmer im Sinne der steuerlichen Betriebsausgaben geltend machen. Ihr Betrieb ist ihr Kopf.
Das führt in vielen Ländern dazu, dass klassische Soforthilfen nicht für sie verfügbar sind. Auch fallen sie meist durch das Sozialsystem – es gibt nur wenige Länder, in denen Autoren und Übersetzer zum Beispiel in die Rentenkasse zahlen (Deutschland) oder staatliche regelmäßige Unterstützung erhalten (Frankreich).

Derzeitige und zu erwartende wirtschaftliche Verluste
Die Krise trifft Autoren und Autorinnen mit dem Ausfall abgesagter Veranstaltungsformate bis oft für den Rest des Jahres. Buchhandlungen und andere Stätten können aufgrund der sanitären Schutzmaßnahmen keine kostendeckende Veranstaltung mehr durchführen, und konnten durch den Einbruch im Kaufmarkt – ein Verlust von einer halben Milliarde Euro Umsatz nur in den sechs Krisenwochen allein in Deutschland! – keine Rücklagen für Veranstaltungskosten, inkl. Honorar und Reisekosten für AutorInnen bilden. In geringerem Maße sind auch ÜbersetzerInnen betroffenen, die selbst Veranstaltungen kuratieren, moderieren, gestalten, Vorträge halten, Workshops leiten und Seminare geben.

Hier gehen wir zum Beispiel in Deutschland von 30.000 nicht statt findenden Lesungen in Buchläden und Literaturhäusern aus, neben mehreren tausend Vorträgen, Panels, Workshops und weiteren Formaten, die sonst in Bibliotheken, Universitäten, an Schulen oder Residenz- und Künstlerhäusern statt fänden. Nachvollziehbar lässt sich von 50.000 abgesagten Veranstaltungen für 2020 und die Wintermonate 2021 ausgehen.

In ganz Europa und den non-Eu Ländern sind vier Buch-Segmente besonders betroffen:

  • Kinder- und JugendbuchautorInnen, die 50 bis 80 % ihres Jahreseinkommens aus Lesungen, Schreibkursen, Leseförderungsformaten bestreiten
  • Genre-AutorInnen (Krimi, gehobene Unterhaltung): Sie machen einen Großteil der publikumswirksamen Erwachsenenlesungen in Buchläden aus
  • SachbuchautorInnen: Konferenzen und Fachvorträge, Workshops und wissensvermittelnde Kurstätigkeiten fallen aus; so mancher Sachbuchautor „reist“ sonst mit einem Buch zwei Jahre und erwirtschaftet sonst dadurch seinen Jahreslohn.
  • Poesie- und Theater-Autorinnen und Übersetzer: Keine Festivals, keine Aufführungen, keine Poetry Slams, keine Moderationen und ausgefallene Sommer-Seminarwochen

So trifft die Krise langfristig Autorinnen und Autoren sowie Übersetzende

  • 64 % erwarten Verluste aufgrund der verschobenen Veröffentlichung ihrer Titel und die damit resultierende spätere Zahlung der nächsten Margen ihrer Vorschüsse (soweit vorhanden) und Tantiemen
  • Nahezu 40 % rechnen mit Verlusten aufgrund aufgeschobener Verträge und der daraus resultierenden Verzögerung von Vorschüssen.
  • Viele erwarten darüber hinaus annullierte Zusagen auf Buch- oder Übersetzungsaufträgen oder für sie nachteilige Nachverhandlung
  • Ebenso nachvollziehbar werden Vertragsverhandlungen von Seiten der Verlage strenger geführt werden und (noch) weniger autorenfreundliche Verträge, niedrigere Vorschüsse oder Tantiemen in 2021 mit dem Verlustjahr 2020 begründet werden
  • Elektronische Vergütungen und der leicht gestiegene Absatz von e-Books fangen die Verluste nicht auf, im Gegenteil: Streaming- und Abo-Modelle haben weitaus größeren Zulauf in der Krise erfahren, hier jedoch mit einem sinkendem monetärem Autorenanteil in diesem Segment der Flatrate- oder e-lending-Modelle
  • Übersetzer und Übersetzerinnen werden in einer zweiten Welle getroffen werden, wenn Verlage ihre Programme verschieben und in Konsequenz verkleinern, so dass es deutlich weniger Übersetzungsaufträge geben wird

Ist die Diversität und Freiheit der Europäischen Buchwelt in Gefahr?
Verkleinerte Programme, reduzierte Vorschüsse, und eine weniger risikobereite Investitionslust in neue Stimmen und Themen, werden zudem die Vielfalt der Literatur einschränken und das grundsätzlich sowieso bereits eher instabile und prekäre Einkommen der Autoren und Übersetzerinnen bedrohen. Hier sehen wir auch neue Autoren, weibliche Stimmen sowie Übersetzungen aus weniger bekannten Sprachen als jene an, die mit einem künftig deutlichen erschwerten Zugang zum Buchmarkt zu kämpfen haben werden.
Insgesamt erleidet auch die Gesellschaft einen Diskursverlust. Debatten gehen oft von Büchern aus; genauso wie Leseförderung, Wissensvermittlung, Pluralitätsimpulse. All dies ist zum Stillstand gebracht. Der Resonanzboden der Gesellschaft verödet.

Die Chance auf ein System-Update: Hier ist ein ressortübergreifendes politisches Engagement gefragt – in jedem Land.
Gibt es je ein „Danach“? Oder ist ein Leben mit einer permanenten Pandemie-Bedrohung das „neue Normal“, und was bedeutet das für die Infrastrukturen unserer bisherigen Alltage – auch der Buchbranche? Die Kriegsgebiete der letzten Jahre sind bekannt und ähneln sich in den meisten Ländern, wenngleich auch im unterschiedlichem Schweregrad – aber sie alle haben dazu geführt, dass uns die Krise härter trifft, als es sein dürfte. Es geht um Geld, um Wertschätzung und Wertschöpfung, um den Verlust von Mut zu anderen als nur marktgleitfähigen Inhalten. Es geht um Monopole wie Amazon, um geduldete Rechtsbrüche wie Piraterie. Immer wieder um Verträge – hier hoffen wir als EWC, dass eine starke Implementierung des Kapitel 3 der DSM Directive, den Autoren gerechte Vergütung, transparente Abrechnungen, Schutz ein Verbandsklagerecht, sowie die Pflicht zur Auskunft seitens der Rechte-Verwerter, zum ihrem Recht verhilft.

Wissen und Glaube, Fakten und Fiktion, Identität und Neuerfindung: all davon erzählen uns Bücher auf eine nachhaltige, prägende, nötige Weise. Die Bedeutung dieses Wertes der freien, vielfältigen Buchlandschaft ist nicht zu unterschätzen. Um auf politischer Ebene diesen Wert zu untermauern und in ihn zu investieren, hat der EWC 37 Maßnahmen entwickelt, die individuell auf Länderebene ausgeformt werden können – so wie es in Deutschland das Netzwerk Autorenrechte mit einem 12-teiligen Katalog getan hat. Darunter Fonds für Online-Veranstaltungen, für die Leseförderung, für Schulveranstaltungen, aber auch Ideen für einen Comebackfonds sowie „Jedem Kind ein Buch“.
Wir sind in Deutschland zurückhaltend optimistisch: es gab bisher keinerlei zugeschnittene Kompensation für unsere Ausfälle, für den Buchsektor steht auch im Neustart Kultur-Paket der Regierung ein nur einstelliger Millionenbetrag zur Verfügung, der in Infrastruktur, Unternehmen und indirekte Förderung investiert werden soll. Hier wünschen wir uns deutlich stärkere Signale für die Quellen der gesamten Buchwertschöpfungskette: der Autoren und Übersetzer. Und deswegen möchte ich die Frage nach: Haben Bücher noch eine Zukunft? Auch eher damit beantworten: Hat die Zukunft überhaupt eine Zukunft – ohne Bücher?

Übersetzung ins Spanische: Carlos Fortea, siehe: acescritores.com